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  • Philippe Vallat

Das Ende der Kontrollsucht

Schlechte Nachricht: Nein, es lässt sich nicht alles kontrollieren...


Projizieren

Vielleicht ist es sinnvoll, zurück zum Begriff "Projekt" zu kommen. Das Wort "Projekt" leitet sich, laut Wikipedia, von „lat. proiectum, Neutrum zu proiectus 'nach vorn geworfen', Partizip Perfekt von proiacere 'vorwärtswerfen'“ ab. Bei Projekten wird unter 'vorwärts' eine zeitliche Dimension verstanden. Erstaunlicherweise geht diese Dimension der Projizierung in die Zukunft, etymologisch "vorwärts werfen", in den Fachdefinitionen des Begriffes verloren: es ist nur von "Einmaligkeit" und "temporären Vorhaben" die Rede. Das heisst, dass grundsätzlich Projekte mit der Zukunft, mit dem Unbekannten zu tun haben. Zugegeben, es tönt trivial. Die Frage ist, welche Methoden haben die Menschen entwickelt, neben Kaffeesatz lesen, um mit der unbekannten Zukunft vernünftig umzugehen?


Wahrnehmung und Realität

Bezüglich Zukunft warnt uns Doug de Carlo wie folgt:

"Plans don't cause reality to change. Just the opposite is the case: reality causes plans to change. "

Ja, es gibt Projekte, auch komplizierte Projekte, wo gewissen Annahmen richtig genug sind, wo genügend Voraussehbarkeit gegeben ist, um traditionnelles Projekt-management mit Erfolg anzuwenden.


Das Problem liegt darin, wenn ich nicht (früh genug) erkenne, dass die Realität nicht mehr meinen Vorstellungen entspricht. Sie haben vielleicht gemerkt, wenn Sie sich in einer Stadt mit einer Karte orientieren, wie ihr Gehirn in erster Linie die Umgebung so interpretiert, so dass sie der Karte entspricht. Die Winkel der Kreuzung entsprechen nicht genau der Karte, der Standort der Kirche auch nicht, sowie auch nicht die Breite der Strasse. Und trotzdem möchte mein Gehirn einfach nicht wahr haben, dass ich mich am falschen Ort befinde. Im Gegenteil, wie Marylin Schlitz schreibt:

"Belief blinds us to alternative points of view and can even lead to dogmatic assertions about things we know nothing about."

Mein Gehirn möchte nicht erkennen, dass die Realität eine Andere ist, mit den Konsequenzen, dass ich erstens zugeben muss, dass ich einen Fehler gemacht habe (sehr unangenehm) und dass ich zweitens meinen Fehler korrigieren muss, was mit Aufwand verbunden ist (noch unangenehmer). Diese natürliche Reaktion des Menschen heisst kognitive Dissonanz.


Wenn best practices zu Dogmen werden...

Da wir in den Schulen und Universitäten nur gelernt haben, rational mit komplizierten Problemen umzugehen, glauben wir an einer Welt, wo folgende Annahmen für sämtliche Projekte gelten:

  1. Das Problem ist gut bekannt

  2. Die Lösung auch...

  3. Die Zukunft ist voraussehbar

  4. Die Zeit läuft linear ab

  5. Störungen haben wenig Relevanz

  6. Mit Wissenschaft und Technik kann man alles beherrschen.

Diese Annahmen führen zu folgenden Projektmanagement Dogmen, wenn sie unreflektiert an komplexe Projekte angewendet werden:

  1. Der Projektauftrag muss klar sein

  2. Gute Ziele sind SMART formuliert

  3. Detaillierte Planung ist das A und O

  4. PERT und Gantt sind unabweichliche Instrumente

  5. Mit dem Risiko- und Veränderungsmanagement kann ich mein Projekt im Griff behalten

  6. Wenn mein zertifizierter Projektleiter mit MSProject arbeitet, dann kann es nur gut kommen.

Weshalb ist es so? Weil sicher zu sein angenehme Gefühle auslöst. Und das Gehirn filtert jegliche Informationen heraus, die unseren Vorstellungen widersprechen, so dass diese angenehmen Gefühle weiterhin bestehen. Umgekehrt löst Unsicherheit Stress und Angst aus. Und da Angst ein unbequemes Gefühl ist, wird unbewusst versucht, die Stressoren zu hinterfragen oder negieren (eben, kognitive Dissonanz).


Kontrollsucht

Damit wir die kognitive Dissonanz im Projektmanagement lösen können entwicklen sich, wenn man darauf nicht achtet, folgende, meistens unbewusste Verhalten, die bei komplexen Projekten kontraproduktiv sind:

  • Die Projektdynamik wird als linear und voraussehbar wahrgenommen

  • Veränderungen werden als unangenehme Störungen wahrgenommen

  • PM-Methoden und Standard sollen diszipliniert und kontrolliert angewandt werden

  • Planungssicherheit wird erwartet

  • Kontroll- und überwachungsgeleitetes Führungsverständnis, welches zu Übersteuerung führt

  • Konflikte und Widersprüche werden ungenügend besprochen und behandelt

  • Alles, was nicht messbar ist, wird ignoriert:

  • Es werden vermehrt "Key Performance Indicators" generiert oder verlangt

  • Um die "Komplexität zu reduzieren" werden schwache Signale ignoriert

  • Die Gefühle und Wahrnehmungen der Projektbeteiligten werden unterdrückt

  • Der Controlling-Aufwand nimmt zu

  • Projektfortschritt wird anhand einfachen, aber dafür wenig relevanten Kriterien, gemessen (z.B. Kostenentwicklung).

Konsequenz: es wird ein Gefühl von Pseudosicherheit entwicklet. Kein Wunder, dass somit der Mut, die echten Probleme anzusprechen, verschwindet...


Welche Leadership-Eigenschaften sind dann gefragt?

In meinen Projektmanagement-Kursen geben die Teilnehmenden bei der Feedback-Runde sehr wertvolle und konstruktive Kritiken ab, wie "die Anleitungen für die Gruppenarbeiten sind unklar", oder "wir verfügen nicht über genug Zeit für die Gruppenarbeiten". Meine provozierende Antwort dazu ist etwa "danke, ich werde allerdings nichts daran ändern". Bin ich faul, bin ich arrogant?


Je höher die Komplexität, desto wichtiger sind die emotionalen Kompetenzen der Führungspersonen wichtig. Diese erlauben es, unbequeme Gefühle wie die Angst, die kognitive Disonnanz bei sich wahrzunehmen und mit diesen konstruktiv umzugehen.

Erhöhte Komplexität, erhöhte Unsicherheit lösen Stress und Angst aus. Die Antwort liegt nicht darin, diese Realitäten mit Kontrollwahn zu bekämpfen, sondern seine eigene Frustrationstoleranz zu erhöhen.


Im Zweifel, ob Kontrollsucht oder Frustrationstoleranz bei Ihnen überwiegt? Hier und hier gibt es einen Test.

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